Der Osten lebt! Der Osten bebt!
Auf den Spuren unserer deutschen Kultur
Einleitung
Wenn ich das Wort ‚Osten’ hörte, waren meine Gedanken sehr eng. Mir fielen Begriffe ein wie ‚Mauer’, ‚DDR’, ‚Sächsisch’, ‚Wiedervereinigung’, ‚9. November’. Aber, wenn ich ehrlich bin, ich wusste nichts über den ‚Osten’.
Den ersten Kontakt hatte ich 1991, als ich Urlaub auf der Ostseeinsel Rügen machte. Ein wundervolles Fleckchen Erde! Es gab Alleenstrassen, deren Baumkronen einen Tunnel bildeten. Die Natur war in weiten Teilen der Insel unverfälscht und in der vielfältiger Art der vorpommerschen Boddenlandschaft wechselten Binnenseen, Heide, Sandbuchten, große Waldgebiete wie die Stubbenkammer bis hin zu den herrlichen Kreideklippen am Königsstuhl. Orte wie Vitt im Norden, die Bäderstädte Binz, Sellin und Göhren im Osten oder Putbus im Süden brachten mich zum Staunen und sind mir unvergessen. Die angrenzende Insel Hiddensee ist ein Paradies, um sich autofrei vom Alltag zu erholen. Die Insel Vilm und die Halbinsel Mönchsgut sind einzigartige Landschaften im heutigen Biosphärenreservat.
Vieles kam mir damals vor wie noch in Kindertagen, die Straßen, die Häuser, die Geschäfte. Ich erinnere mich, niemals im Leben so viele Satelliten-Antennen gesehen zu haben wie auf dieser Reise. Und ich lernte neue Begriffe: „die, die jenseits der Elbe wohnen“, ‚Broiler’, ‚Letscho’ oder ‚Soljanka’. Als ich in einem Ausflugs-Restaurant mit dem Flair einer HO-Bahnhofswartehalle die Serviererin fragte, was denn ein Broiler sei, schaute sie mich an, als käme ich von einem anderen Stern. Nebenbei, des Rätsels Lösung: Es handelt sich um ein halbes Brathähnchen. Mit dieser und vielen anderen Begegnungen begriff ich, dass ich in einem deutschen Land war, wo jeder vom anderen keine oder falsche Vorstellungen hat.
Ich besuchte Rügen noch einmal im Jahr 2004. Ich staunte nicht schlecht über die Entwicklung in der Zeit. Bei meinem ersten Besuch war in Binz noch der Zerfall aus DDR-Zeiten sichtbar. In der Zwischenzeit hat sich die Stadt zu einer modernen Touristik-Metropole mit bestens funktionierender Infrastruktur entwickelt. Besonders imponierte mir, dass mit allen Sanierungen und Neubauten der Charme der Bäderkultur des beginnenden 20. Jahrhunderts erhalten bzw. neu geschaffen wurde. Auch der Spruch von ‚ jenseits der Elbe’ war verschwunden.
Leider musste man auch ‚Broiler’, Letscho’ und ‚Soljanka’ suchen. Diese köstlichen Gerichte aus DDR-Zeiten waren aus den Restaurants fast verschwunden und westlichen Standards gewichen. Aber in der kleinen Eckkneipe, fern vom Tourismus, wo eigentlich nur Rüganer einkehren, da fand man sie noch! Dort fand man auch noch Menschen, die nicht nur von der täglichen Hatz geprägt sind, sondern die Gemeinschaft und das Miteinander suchen, so wie ich es noch von früher her kenne.
Lange hatte ich daraufhin mit dem Osten wenig zu tun. Beruflich trieb es mich zwischendurch nach Eisenach. Dort fand ich ein Restaurant, dass mich doch wieder sehr an alte DDR Zeiten erinnerte: ‚das Storchennest’. Es gab noch ‚Schnitzel à la Strindberg’, was fast ein ostdeutsches Nationalgericht war und eine Suppe ‚wie die Köchin gerade Lust hat’. Vor allen Dingen aber fand ich meine Eindrücke, die ich auf Rügen gesammelt hatte, bestätigt.
Erst dieses Jahr habe ich diesen Teil von Deutschland richtig lieben gelernt: Die schönen Städte und Landschaften, die Herzlichkeit der Menschen, der Gottesglaube der Menschen, den 40 Jahre Sozialismus doch nicht haben zerstören können und meine Begegnung mit Personen unserer älteren und jüngeren Vergangenheit: Martin Luther, Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Johann Gottfried von Herder, Christoph Martin Wieland, Erich Kästner, Georg Friedrich Händel, Richard Wagner, Felix Mendelssohn-Bartholdy, Robert Schumann, Edvard Grieg, Albert Lortzing, Max Reger, Georg Philipp Telemann und Helmut Schön.
Jeder Besuch in Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern versetzt mich immer wieder ins Staunen. Davon möchte ich ihnen in den nächsten Wochen und Monaten berichten.
Ich lade Sie ein, an meinen Reisen und Besuchen in diesen uns im Herzen fernen deutschen Landen teilzuhaben und vielleicht fühlen sie sich angeregt, das eine oder andere selbst zu erkunden.
Hinweis zu den Bildern:
1. Kreidefelsen auf der Insel Rügen
2. Königsstuhl von der Viktoria Bucht aus gesehen (Rügen)
3. Werbung einer Broiler-Restaurantkette der DDR
4. Die rekonstruierte Seebrücke in Sellin
5. Ampelmännchen und Traband – (© Kulturspiegel von 1988)